ADC 2023: Gesellschaftliche Relevanz siegt über technische Brillanz

Eine etwas andere Nachbetrachtung in persönlichen Statements der Jury Design „Interface + Motion“ auf das ADC Festival 2023.

Der ADC 2023, Deutschlands größtes Treffen der Kreativ- und Kommunikationsbranche, fand vom 13. bis 16. Juni in Hamburg im Schuppen 52 – einer alte Lagerhalle in der Hamburger Hafen-City – unter dem Motto: „Change the world with creativity“ statt. Die 30 ADC-Jurys mit insgesamt 450 Juror*innen vergaben in diesem Jahr im Hauptwettbewerb weniger Auszeichnungen als im Vorjahr: drei Grand Prix, 50 goldene, 117 silberne und 233 bronzene Nägel. Dies spiegelt auch die geringere Zahl der Einreichungen in diesem Jahr wider.

Besonders hervorzuheben: der Nachwuchswettbewerb beim ADC 2023.

Mit 598 Einreichungen erreichte der ADC Talent Award in diesem Jahr einen Rekord. Einige Beobachter waren der Meinung, dass dieser Teil des Festivals mehr zu bieten hatte als der Hauptwettbewerb. Das mag daran gelegen haben, dass die teilnehmenden Studierenden in der Gestaltung ihrer Arbeiten weniger eingeschränkt waren als die auftragsgebundenen Kommunikationsprofis. Die Jury vergab zwei Grand Prix, 33 Goldene Nägel, 47 Silberne Nägel und 79 Bronzene Nägel. Insgesamt wurden 113 Arbeiten ausgezeichnet und 159 Nägel vergeben.

Jury Design „Interface + Motion“  ADC-Festival 2023
Unsere zweitägige Jurysitzung wurde im aufblasbaren Zelt im Schuppen 52 abgehalten. Im Vorfeld fand eine Online-Abstimmung über die eingereichten Arbeiten statt.

Statements der Jury Design „Interface + Motion“

Wir beurteilten in der Jury Design „Interface + Motion“ vom User Interface für Web und App über Motion Design für Corporate Design bis Spatial Experience auch die Semester-, Abschluss- und Praxisarbeiten des „ADC Talent Award“ im Bereich „Interface Design, Motion Design und Communication Arts“. Wie im letzten Jahr fand auch beim ADC 2023 ein „Pre-Voting“ statt, bei dem alle Arbeiten und Cases vorab online für die Shortlist bewertet werden konnten. So hatten alle Juror*innen am Jurytag eine sehr gute Übersicht über alle eingereichten Arbeiten.

Legacy of Tomorrow – unglaublich hohe Kreativität und krasse Qualität

„Ich fand es wirklich sehr interessant, aber ich bleibe bei deinem Motto vom letzten Jahr: Die Jury war besser als die Arbeiten. Im Großen und Ganzen habe ich aus den Einreichungen nicht wirklich etwas mitgenommen. Es gab nichts bahnbrechend Neues oder Innovatives. Aber es gab einige bemerkenswerte und qualitativ hochwertige Arbeiten, wie z.B. die virtuelle Modenschau „Legacy of Tomorrow“ oder die Netflix „Mockumentary“. Interessant fand ich aber, dass diese Arbeiten, gerade weil sie sich durch eine unglaublich hohe Kreativität und krasse Qualität in der Umsetzung von den anderen Arbeiten abhoben, von der Jury eher gering bewertet wurden. Bevorzugt wurden Arbeiten, die an der Oberfläche weniger glänzten und „handgemachter“ und traditioneller wirkten. Vielleicht ein Zeichen der Zeit, dass allzu Perfektes und Futuristisches derzeit weniger angesagt ist als inhaltliche und gesellschaftliche Relevanz, wie z.B. beim Online-Gedenkprojekt für die Opfer des Holocaust“. – Christopher Bauer

„Legacy of Tomorrow“
Die Idee von „Legacy of Tomorrow“ ist es, die ansonsten sehr exklusive Runway-Show auf eine neue und außergewöhnliche Ebene des Modeerlebnisses zu heben. Der virtuelle Raum bietet unbegrenzten Spielraum für Kreativität, Ausdruck und Storytelling rund um die Präsentation von Designermode.

Casefilm zu: „Legacy of Tomorrow“.

„I AM not your Baby“, die Adaption eines britischen Portraitformats für den YouTube-Kanal von Netflix, konzentriert sich nicht auf das ursprüngliche Thema „Heimat“, sondern auf die intime Identitätssuche der Protagonistin Ruby O. Fee. Dieser Ansatz führte zur Entwicklung eines innovativen dokumentarischen Stils, der Rubys Realität in filmische Bilder verwandelte. Ruby hat sich intensiv an der Gestaltung ihrer Episode beteiligt, und das Genre, der Look und die Erzählform spiegeln ihre Perspektive und Fantasie wider.

„Hammer Arbeit dieses Metaverse der Fashion Week, aber…“

Dominik stimmt dem Urteil von Christopher gerne zu: „Hammer Arbeit dieses Metaverse der Fashion Week „Legacy of Tomorrow”. Super stylish, i like a lot … aber als alter Assassins Creed Zocker frage ich mich schon wie da der Stealth Mode funktioniert. Irgendwie will man immer mehr. Mehr Interaktivität, mehr geiles Gameplay. Aber dann fällt einem wieder ein, dass es doch nur Werbung ist. Schade Pomade. Und das „Shoah Memorial“ des Jüdischen Museums Frankfurt fand ich eine sehr gelungene, emotionale Arbeit, die dem Thema eine sehr durchdachte Würde verleiht. Die sehr würdevoll zum Nachdenken einlädt und mit der man sich stundenlang beschäftigen kann, um ganz persönliche Schicksale zu entdecken und gegebenenfalls weiterzuerzählen. Großartig.“ – Dominique FLINX Schuchmann

„Shoah Memorial Frankfurt“
Das „Shoah Memorial Frankfurt“ dient der digitalen Erweiterung und Erlebbarmachung der Gedenkstätte Neuer Börneplatz. Besucherinnen und Besucher können die Biografien der Ermordeten vor Ort mobil erkunden. Die Recherche- und Erinnerungsplattform funktioniert aber auch ortsunabhängig und kann so von Nachfahren in aller Welt, Forschenden, Interessierten und für die Bildungsarbeit genutzt werden. Informationen können nicht nur gesucht, sondern auch mit der ganzen Welt geteilt werden.

Casefilm zum „Shoah Memorial Frankfurt“.

„Uns wird schon was einfallen“ – überzeugt durch Leichtigkeit

Die Abschlussarbeit „Uns wird schon was einfallen“ überzeugte durch einen klugen kreativen Ansatz. „Kaum fällt das Wort Klimaschutz, geht den meisten Menschen der Puls hoch. Klar, wenn wir uns heute nicht um unsere Umwelt kümmern, sehen die Aussichten für ein gesundes Klima und damit für unsere Zukunft mehr als düster aus. Doch wer die Menschen erreichen, wachrütteln und mit ihnen ins Gespräch kommen will, muss sich nicht radikalisieren, auf die Straße gehen oder gar Kreuzfahrtschiffe blockieren. Im Gegenteil: Mit Intelligenz, Kreativität, Ironie und Humor erreicht man oft mehr als mit aggressivem Verhalten, das oft auch aggressive Gegenreaktionen und Wut hervorruft. So erreicht man nicht viel. Also macht man es besser anders.

Klug gedacht und brillant umgesetzt…

So wie die Kampagne: „Wir lassen uns was einfallen“. Klug gedacht und ebenso brillant umgesetzt, überzeugt diese Arbeit beim Thema Klimaschutz durch eine selten gesehene Leichtigkeit, Cleverness, gekonnte Umsetzung, Kreativität und ist nach Meinung der Jury in der Lage, mehr zu bewegen und Diskurse anzustoßen als Krawall und Härte. Hier hören die Menschen erst einmal schmunzelnd zu, denken entspannt nach und kommen so eher zu der Erkenntnis, dass sie selbst etwas tun können. Und wer mit seiner Arbeit etwas in der Gesellschaft auslöst, der ist eben ein echter Gewinner und ein verdienter Nagelbesitzer“.  – Jörg Hoffmann

„Der Veranstaltungsort war cool, die Luft „hot“ und das Juryteam super. Wir hatten gemeinsam viel Spaß, spannende Diskussionen und tolle Arbeiten zu bewerten. Besonders beeindruckt hat mich die inhaltliche, visuelle und handwerkliche Qualität der Nachwuchsarbeiten. Viele Arbeiten haben es sich thematisch nicht leicht gemacht und sind den komplexen Herausforderungen unserer Zeit mit schönen kreativen Lösungen begegnet. Für mich war die Abschlussarbeit des Talentwettbewerbs „Uns wird schon was einfallen“ das Highlight. Sie stellt den Technikoptimismus in Bezug auf den Klimawandel humorvoll, zugänglich und ästhetisch wunderbar dar. Chapeau!“ – Dominik Lammer

Im Sinne des „Critical Design“ werden in der Abschlussarbeit "Uns wird schon was einfallen" absurde Erfindungen konzipiert,
Im Sinne des „Critical Design“ werden in der Abschlussarbeit „Uns wird schon was einfallen“ absurde Erfindungen konzipiert, die die Ursachen und Folgen der Klimakrise scheinbar im Handumdrehen beseitigen. Die Objekte selbst dienen als Kommunikationsmedium: Durch sie werden die Hoffnungen der Technikoptimisten satirisch überspitzt und in Frage gestellt. Unterstützt durch die Ästhetik aktueller Produktvisualisierungen oszillieren die Konzepte zwischen Glaubwürdigkeit und Ironie. So regen sie zu eigenen Schlussfolgerungen und gesunder Skepsis an.

Casefilm zur Abschlussarbeit: „Uns wird schon was einfallen“.

Spot-a-bot.net: „Es ist beunruhigend, …“

„Aus meiner Sicht haben wir in diesem Jahr eine außerordentlich vielfältige Palette von Arbeiten gesehen, die sich intensiv mit den unterschiedlichsten gesellschaftlich relevanten Themen auseinandersetzen. Es ist faszinierend zu sehen, wie viel in Bewegung ist. Es ist bemerkenswert, wie es Kreativen gelingt, so wichtige Themen mit kreativen Ansätzen ins Rampenlicht zu rücken. Ein Beispiel dafür ist die Abschlussarbeit „Spot a bot“. Bots auf Twitter werden zunehmend zur Verbreitung von Falschinformationen und zur politischen Manipulation eingesetzt. Sie agieren nicht isoliert, sondern koordiniert, um ganze Trends zu lenken oder gar zu kreieren. Es ist beunruhigend, wie Informationen in unserer Gesellschaft durch Bots verfälscht werden. Aber dank Tools wie Spot-a-bot.net haben wir die Möglichkeit, aktuelle und vergangene Twitter-Trends über Bots zu verstehen und aufzudecken. Das ist ein kluger Schritt.“ – Birte Ludwig

"Spot a bot" – erkennt Bots auf Twitter.
Bots werden auf Twitter eingesetzt, um Falschinformationen zu verbreiten, zu betrügen oder politisch Einfluss zu nehmen. Dabei agieren sie oft nicht allein, sondern koordiniert, um ganze Trends zu steuern oder gar auszulösen. Welche Trends organisch und welche künstlich entstanden sind, lässt sich beim Scrollen durch die Twitter-Timeline nur schwer erkennen. Die Lösung: „Spot a bot“.
Casefilm „Spot a bot“.

BMW i Vision Dee E-Ink: „Wie von Geisterhand bewegt …“

Eine Arbeit, die die Jury im Bereich Motion Design begeisterte. „Perfektes Zusammenspiel von Motion Design und Live-Inszenierung im Raum: Der BMW i Vision Dee E-Ink wird durch seine spezielle Beschichtung zum wandelnden Chamäleon und reagiert in Echtzeit auf das Motion Design im Hintergrund. So tanzen Farben und Muster über den Lack und erwecken das (geparkte) Auto zum Leben bzw. erzeugen die Illusion, dass es sich wie von Geisterhand bewegt“. – Jan Wölfel

Casefilm „Reveal BMW I Vision Dee E Ink“.

Rundgang der FH Salzburg: Liebe zum Detail und eine klar definierte Leitidee.

„Das diesjährige ADC Festival war eine ganz besondere Erfahrung. Ich habe viele neue und alte Kollegen aus der Branche getroffen. Darunter auch einige, die ich bisher nur virtuell kannte. Das lag aus meiner Sicht vor allem an der Atmosphäre in der tollen Location Schuppen 52. Das Pendeln zwischen den zeltartigen Räumen und dem Open Space mit Gesprächen und Catering ließ buchstäblich viel Raum für Gedanken und Austausch über die Arbeit und die Veranstaltung selbst. Dies trug sicherlich auch zur ausgewogenen Diskussionskultur in unserer Jury Design Motion & Interface bei. Mich persönlich hat auch eine Nachwuchsarbeit begeistert. Das Branding des „Rundgang der FH Salzburg“ überzeugt durch Klarheit, viel Liebe zum Detail und eine klar definierte Leitidee, die Digital und Print verbindet. Die Ästhetik des QR-Codes wird zum Gestaltungssystem. Aus den Pixeln entstehen Schrift, Veranstaltungslogo, Infografik und Muster. Gerade in den digitalen, animierten Elementen macht die Gestaltung richtig Spaß.“ – Henning Otto

Rundgang der FH Salzburg: eine Kampagne aus fünf Plakaten
Für den Rundgang der FH Salzburg wurde eine Kampagne aus fünf Plakaten entwickelt, welche mittels Captcha-Bildern den Blick der Betrachter*innen auf Probleme unserer Welt lenken. Scannt man das Plakat mit der AR App Artivive, wird eine Animation sichtbar.

Casefilm zur Abschlussarbeit: „Rundgang FH Salzburg“.

Fazit. Der ADC 2023 traf den Nerv der Zeit

Der Fokus auf gesellschaftliche Relevanz und authentische Kreativität kann als Antwort auf unsere zunehmend digitalisierte und von künstlicher Intelligenz geprägte Welt verstanden werden. Diese Rückbesinnung auf Authentizität und Inhaltsreichtum könnte den Weg in eine neue Ära der Kreativität ebnen, in der das „Warum“ über das „Wie“ triumphiert. Bemerkenswert war auch die Dynamik in unserer Jury, die sich besonders auf den Wettbewerb für junge Talente fokussierte. Die nächste Generation von Kreativen hat eindrucksvoll bewiesen, dass sie bereit ist, die Bühne zu erobern und die Spielregeln zu verändern. Ihr unkonventioneller und frischer Umgang mit Kreativität stand in scharfem Kontrast zur auftragsgebundenen Arbeit der Kommunikationsprofis.

Nicht mehr nur die Brillanz der Ausführung, sondern vor allem der Kontext entscheidet

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das ADC-Festival 2023 einen klaren Trend aufgezeigt hat: In der Kreativ- und Kommunikationswelt zählt nicht mehr nur die Brillanz der Ausführung, sondern vor allem der Kontext, der inhaltliche Wert und die gesellschaftliche Relevanz der Arbeit. Vielleicht ist das genau die Lektion, die wir in einer Zeit lernen müssen, die zunehmend von digitalen Technologien und künstlicher Intelligenz geprägt ist.

Ein Tipp: Alle Gewinnerarbeiten sind ab sofort in der ADC Gallery zu bewundern!

Ein herzlicher Dank

Ein Derzlicher Dank geht an unsere Juryvorsitzende Birte Ludwig und meine Jurykolleg*innen: Thorsten Kraus, Karin Mantel, Henning Otto, Christopher Bauder, Axel Eckstein, Jörg Hoffmann, Diether Kerner, Dominik Lammer, Alexander Müsgens, Markus Sauer, Dominique FLINX Schuchmann, Michael Volkmer, Jan Wölfel. Und natürlich unseren Jury-Assistenten: Jan-Henrik Hahn. Vielen Dank an das gesamte ADC Team für die tolle und reibungslose Organisation der Jurysitzungen. Wir freuen uns auf das ADC Festival 2024!

Titelbild: Die 30 ADC-Jurys mit insgesamt 450 Juroren auf einem Bild! Fotografin: Helen Fischer. Bildbearbeitung: Jacques Pense (Ergänzung der Ballons).

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